Wortbildung

Im übergeordneten Artikel Entwurfsprinzipien für künstliche Sprachen erwähnten wir einige Prinzipien, nach denen die Worte einer künstlichen Sprache gebildet werden können:



- freihand (unsystematisch)
- historisch beeinflußt
- grammatisch (Wortart an Wortstruktur erkennbar)
- gruppenweise systematisch (z.B. Flüssigkeiten haben Konsonantengerüst L-L-)
- systematisch nach einem stufigen, alphabetischen Bibliothekscode
  (z.B. Lebewesen beginnen mit m, Tiere mit ma, Menschen mit mi ...)
- mehrstufig  (Wortzusammensetzung)
- nach dem Lautbildschrift-Prinzip: spezielle Buchstaben werden zu Ideogrammen
  zusammengesetzt, die einen Begriff möglichst gut darstellen
- nach Ähnlichkeit zu physikalischer Sprachdarstellung
- nach Ähnlichkeit zu Mundstellung und Mundbewegung
- Intuition: paßt Wortklang zum Sinn?   relativ subjektiv, aber beachtenswert!



Obige Prinzipien der Wortbildung müssen (bei grammatischer Wortbildung) oder können mit anderen kombiniert werden. Z.B. kann bei einer Lautbildschrift von mehreren möglichen Worten für einen Begriff dasjenige offiziell ausgewählt werden, das kurz ist, oder das klanglich-intuitiv zum Inhalt paßt.

Die Wortbildung aufgrund Ähnlichkeit zu physikalischer Sprachdarstellung ist die 'natürliche' Variante des Lautbildschrift-Prinzips. Sie ist kaum realisierbar, da z.B. der Dampf vor dem Mund (bei kaltem Wetter) und die elektronische Sprachanzeige bei allen Worten relativ ähnliche, undifferenzierte Darstellungen erzeugen. Ähnliches gilt für die Wortbildung analog der Mundstellung und Mundbewegung. Siehe Zeichenbildung bei Lautbildschriften

Schwierig ist auch die Wortbildung nach Intuition. Siehe im Artikel Sprache und Psyche die Abschnitte 'Sprache und Form' und 'Intuitive Richtigkeit'





Grammatische Wortbildung

Die Wortart ist an der Wortstruktur erkennbar, z.B. an:

- Wortlänge:     alle Grammatikworte sind kurz (max. 3 Buchstaben), lexikalische Worte länger
- Konsonantenstruktur: Grammatikworte haben Konsonantengerüst t- oder t-t-, z.B. te, ta, tete, tita
  Nachteil: Bei Häufung von Grammatikworten tritt auch Laut t gehäuft auf
- Wortanfang: Grammatikworte beginnen mit Vokal, lexikalische Worte mit Konsonant
  Vorteil 1: bei alphabetischer Sortierung (Vokale zuerst) kommen alle Grammatikworte zuerst
  Vorteil 2: gute akustische Worttrennung im Satz, siehe Lautsystem
- Wortendung:  in Esperanto enden alle Substantive auf -o, Adjektive auf -a, Verben auf -i
- Mehrerem:     Grammatikworte haben max. 4 Buchstaben und enden auf -e,
  längere Worte auf -e sind Verben mit direktem Objekt. Sonst wie Esperanto.

Die grammatische Wortbildung ist keine vollständige Methode zur Wortbildung, eher zur Strukturierung des Wortschatzes. Sie muß mit anderen Prinzipien der Wortbildung kombiniert werden.


- Nachteil:  Einschränkung der sonstigen Wortbildung, z.B. enden auch alle Personen-Namen auf -o,
   was teilweise als intuitiv unpassend empfunden wird, auch bei manchen anderen Begriffen.
- Vorteil:  kein Lernaufwand für Wortklassen, dadurch Fehlersicherheit, ggf. weitere
   Unterstützung der Grammatik durch die Phonetik (Artikel über Grammatik)


Man kann obigen Nachteil vermeiden und trotzdem den Vorteil geringen Lernaufwands haben, wenn alle lexikalischen Worte denselben Typ haben, nämlich entweder alle den Bindungstyp 0 der Molekül-Grammatik (bindungslos, Verknüpfung erfolgt durch Partikel) oder alle den Bindungstyp 1 (Adjektiv / Verb ohne direktes Objekt). Sobald man die wenigen Grammatikworte kennt, kennt man auch den Typ aller anderen Worte.   Siehe dazu den speziellen Artikel (in Vorbereitung).





Wortbildung gruppenweise systematisch

Zum Beispiel könnten alle Flüssigkeiten das Konsonantengerüst L-L haben.

Worte mit symmetrischer Bedeutung (gleich [wenn A=B, dann B=A], identisch, Mitte, auch Materialbezeichnungen) könnten auch akustisch symmetrisch sein (isi, imi, atata ...). Dabei ist es vorteilhaft, daß es sowohl inhaltlich als auch akustisch wenige solche Worte gibt.





Baumartig aufschlüsselnde Wortbildung

Die 1906 von Foster veröffentlichte Sprache Ro benutzt zur Wortbildung eine Art alphabetischen Bibliothekscode. Beispiel:

- alle Tiere beginnen mit dem Buchstaben m
- alle Wirbeltiere beginnen mit ma
- alle Säugetiere beginnen mit mam
- alle Huftiere beginnen mit mamb
- mambi = Pferd, mambe = Esel, mamba = Zebra


Vorteile der Systematik:
- ähnliche Worte = ähnliche Bedeutung; der Sinn unbekannter Worte kann ungefähr erraten werden

Nachteile der Systematik:
- kein Platz im Code für später entwickelte, unvorhergesehene Wissensgebiete
- Hörfehler können kaum nach Sinn korrigiert werden: Im Satz "Er ritt auf einem mambi" kann man bei schlechter Akustik nie sicher sein, ob vielleicht mambe gesagt wurde. Die deutschen Worte Pferd und Esel dagegen sind akustisch deutlicher unterschieden.


Die Eigenschaften dieser Art der Wortbildung kann man abschätzen, wenn man sie auf die Landkarte überträgt: Dann würden z.B. ein Ort an einer Ecke des Landes mit "aa" (wie Aachen) beginnen, der Ort an der entgegengesetzten Ecke mit "zu" (wie Zugspitze). Der Ortsname könnte sogar direkt die Koordinaten angeben. Je näher also Orte beieinander liegen, desto ähnlicher ihre Namen. Das erleichtert die geographische Einordnung, ist aber wegen zu großer akustischer Ähnlichkeit im Nahbereich unpraktisch.





Wortbildung - statt baumartig besser chaotisch ?

Wir erwähnen zunächst 2 Begriffe aus der Physik (und Mathematik):

starke Kausalität:
  - gleiche Ursache erzeugt gleiche Wirkung (oder Funktionswert)
  - ähnliche Ursache erzeugt eine ähnliche Wirkung

schwache Kausalität:
  - gleiche Ursache erzeugt gleiche Wirkung (oder Funktionswert)
  - leicht verschiedene Ursache erzeugt oft eine ganz andere Wirkung

Schwach kausale Vorgänge und Funktionen nennt man auch chaotisch oder deterministisch-chaotisch (eine etwas unglückliche Bezeichnung).



Die Wortbildung der Sprache Ro (und ähnlicher Systeme) ist nach dieserTerminologie stark kausal, also nicht chaotisch, weil eben ähnliche Worte (= Ursachen) auch ähnliche Bedeutung (= Wirkung) haben. Mit 2 Einschränkungen:
1 - Änlichkeit meint hier "ähnliche Position im Strukturbaum". Die Worte mambi und zambi dagegen könnten eine ganz verschiedene Bedeutung haben. Um letzteres zu beheben, müßte man Worte ähnlich dem mathematischen Gray-Code bilden, der im Gegensatz zur üblichen Zahlendarstellung (999 - 1000) keine plötzlichen Änderungen der Zahlendarstellung kennt.
2 - jede baumartige Klassifikation kann nur 1 Merkmal erfassen - in obigem Code sind die Dinge z.B. nicht nach typischer Farbe, Größe oder Nutzwert sortiert. Lackfarbe könnte man z.B. primär als chemisches Produkt, aber auch bei Hausbau, Autobau, Kunst, Farbe u.Ä. klassifizieren.



Dagegen ist die Wortbildung bei wohl allen natürlichen Sprachen ziemlich chaotisch (in obigem Sinn):
Die deutschen Worte Bienen, Bühnen, Bahnen, Bohnen, Buhnen sind akustisch und geschrieben sehr ähnlich, ihr Sinn nicht: Es gibt bei der Wortbedeutung echte Brüche.
Auch bei der Lautbildschrift gibt es solche Brüche: Ähnliche Ideogramme können eine ganz verschiedene Bedeutung haben. Und umgekehrt haben Ideogramme für Gesichter u.U. keinen einzigen Buchstaben und Laut gemeinsam.

Nebenbei eine philosophisch und mathematisch interessante Tatsache: auch die Teiler von natürlichen Zahlen wechseln chaotisch (23 = prim, 24 = 2*2*2*3,   25 = 5*5). Ob sich hier ein regelmäßig wiederkehrendes Muster finden läßt (wie bei Fraktalen), das vielleicht sogar eine Primfaktorzerlegung mit einem einfachen Algorithmus ermöglicht?





Neues Wort, Wortzusammensetzung oder grammatischer Ausdruck?

Zur Bildung komplexer Begriffe hat man mehrere Möglichkeiten:

0) Neues Wort
1) Zusammensetztes Wort:                                             "Wirtschaftsfragen"         (hier mit Füllsel -s- )
2) grammat. Ausdruck, durch Wortklassen gebunden:   "wirtschaftliche Fragen"   (hier Adj. + Subst.)
3) grammat. Ausdruck, durch Partikel gebunden:           "Fragen der Wirtschaft"



Die Grenze zwischen einfachen Worten und zusammengesetzten Worten / grammatischen Ausdrücken ist fließend (engl. dart - deutsch Wurfpfeil). Sie kann systematisch sein (wenn den einfachen Wörtern ein systematischer Begriffsraster zugrunde liegt), folgt aber meist praktischen Gesichtspunkten: "Auto" ist praktischer, weil kürzer als "Kraftfahrzeug".


zu 0) Neue Worte sind besonders dann nützlich, wenn eine Kombination von bekannten Worten zu lang oder zu komplex ist oder den Sinn nicht recht beschreiben kann.

zu 1) Zusammengesetzte Wörter sind praktisch, weil kurz. Im Vergleich zu einfachen Wörtern sind sie leichter lernbar, im Vergleich zu grammatischen Ausdrücken schwerer, denn bei letzteren gibt eine Präposition die Art der Beziehung an.  Auch sie vermehren die Zahl der zu lernenden Wörter.
Ein zusammengesetztes Wort sollte nicht aus 2 Worten bestehen, die im Satz aufeinander folgen können - wegen der akustischen Verwechslungsgefahr. Notfalls zwischen zusammengesetzte Worte eine Partikel einschieben. Wenn aber das zusammengesetzte Wort eine anderere grammatische Funktion hat (deutsch 'vielmehr' vs. 'viel mehr'), ist die Verwechslungsgefahr geringer.
Oft bevorzugt man eine kurze oder leicht sprechbare Wortkombination statt einer begrifflich präziseren. In einer gut entworfenen künstlichen Sprache sollen alle Wortkombinationen leicht sprechbar sein (z.B. weil jedes Wort mit Konsonant beginnt und mit Vokal endet), um dieses Problem zu vermeiden.

zu 2) Ein aus einem Substantiv abgeleitetes Adjektiv kann zu jenem in verschiedener Beziehung stehen: "eisern" = "aus Eisen" aber "eisig" = "an Eis erinnernd", "tierisch" = "von Tieren" oder "für Tiere" oder "wie bei Tieren". Ein Ausdruck "Subst. + Adj." ist deshalb genauso unscharf wie ein zusammengesetztes Wort. Das gilt besonders, wenn das Adjektiv nicht durch Anhängen einer von mehreren speziellen Endungen gebildet wurde (-ern, -ig, -lich, -voll), sondern durch bloßes Umwandeln einer Substantivendung in eine Adjektivendung (in Esperanto -o und -a). Letzteres hat auch den Nachteil, daß so z.T. kurze Wörter verbraucht oder reserviert werden, die für andere Bedeutungswurzeln nutzbar wären.     Siehe auch den Abschnitt "Kürze" im übergeordneten Artikel

zu 3) Grammatische Ausdrücke mit Partikeln reichen zur Bildung komplexer Begriffe aus, wenn sie ggf. eine Bedeutungsverengung / Bedeutungsspezialisierung erhalten. Ihr Nachteil ist die u.U. lange, umständliche Formulierung. Ihr großer Vorteil ist die systematische Gleichbehandlung aller Fälle. Das ist besonders für geistes- und naturwissenschaftliches Denken günstig, weil auch ungewohnte Ideen sich leicht in gewohnter Weise formulieren lassen. (Im Deutschen dagegen gibt es "Autokauf" aber keinen "Bierkrugkauf", "Endmonage" aber keine "dritteStufemontage", "Griechentum" aber kein "Cherokesentum", "Erdkunde" aber keine "Fußballkunde")


Stand 21.5.2007