Molekül-Grammatik  in  'natürlichen'  Sprachen

Übersicht

Wir zeigen, daß auch natürliche Sprachen teilweise nach dem Prinzip einer Molekül-Grammatik funktionieren. Doch bei ihnen ist alles viel komplizierter. Zum Schluß stellen wir die Frage, ob sich eine natürliche Grammatik rein formal in eine Molekül-Grammatik umwandeln läßt.



Die Bindungstypen haben eine Entsprechung in den natürlichen Sprachen

- Substantive haben den Bindungstyp   o
- Vorangestellte Adjektive und Mengenbegriffe haben den Bindungstyp   o-
  (auf den wir in unserer Einfachst-Molekülgrammatik verzichtet haben)
- Nachgestellte Adjektive und Mengenbegriffe sowie nachgestellte Verben
  ohne direktes Objekt (z.B. 'schweben') haben den Bindungstyp   -o
- Nachgestellte Verben mit direktem Objekt (z.B. 'bewegen') haben den Bindungstyp   -o-

Aber in den natürlichen Sprachen ist alles viel umständlicher:



Die Bindungstypen sind den Worten nicht systematisch zugeordnet

Es gilt zwar die Faustregel:

        Gegenstand = Substantiv     Eigenschaft = Adjektiv     Bewegung = Verb

Diese Regel wird aber oft durchbrochen. Z.B. ist 'unruhig' ein Adjektiv, während 'schlafen' ein Verb ist. Zwar kann man auch bei einer Molekülgrammatik die Bindungen den Worten beliebig zuordnen, aber sinnvollerweise wird man das völlig systematisch tun. (Ein gewisse Unsicherheit ist aber vorhanden: ist z.B. 'Licht' ein Vorgang? Hier wird die Antwort je nach wissenschaftlichem und philosophischem Hintergrund verschieden ausfallen).


Der Bindungstyp kann variieren

Beispiele: im Satz 'Sie singt' oder 'Er sieht' haben die Worte 'singen' und 'sehen' den Bindungstyp -o. Aber im Satz 'Sie singt ein Lied' oder 'Er sieht sie' haben diese Worte den Bindungstyp -o- , binden also je 2 Worte.
'Glas' hat normalerweise den Bindungstyp o, aber im Ausdruck 'Ein Glas Wasser' den Bindungstyp o-


Doppelte Worte

Manche Begriffe gibt es zweifach, mit verschiedenen Bindungstypen, wobei man je nach Satzstruktur das eine oder andere Wort benutzen muß:   regnen - Regen, schön - Schönheit haben jeweils den Bindungstyp   -o   bzw.   o


Ein Wort kann nicht jedes andere Wort binden

Adjektive können sich nur auf Substantive beziehen (im Deutschen auch auf Verben), Adverbien (z.B. 'sehr') nur auf Adjektive oder Verben, Verben nur auf Substantive (manchmal auch auf Adjektive). Bei jedem Bindungstyp können also nur Worte der wahrscheinlichsten Wortklasse als Argumente auftreten. Das erhöht die Redundanz (Rekonstruierbarkeit bei Übermittlungsfehlern), macht aber die Sprache unflexibler.

Soll ein Wort in anderer Funktion genutzt werden, so müssen Umwandlungspartikel benutzt werden: das Adjektiv "grün" wird durch das Hilfsverb "sein" zum Verb "grün sein", das Verb "gehen" durch einen Artikel zum Substantiv "das Gehen", durch Partizip-Bildung zum Adjektiv "gehend", usw.     Manche Begriffe gibt es auch zweifach, mit 2 Bindungstypen, um sich den Umwandlungspartikel zu ersparen (regnen - Regen, schön - Schönheit).


In der Molekül-Grammatik gibt es zwar auch obige Einschränkung, daß ein Wort nicht jedes andere Wort direkt binden kann. Doch indirekt ist das immer möglich durch Zusatz einer isolierten Partikel. Das ist einfacher als die Wortänderung (Substantivierung, Partizip etc.) in den meisten natürlichen Sprachen. Auch gibt es weniger Wortklassen, z.B. keine Adverbien oder Präpositionen (statt "Mensch mit Hut" kann man sagen "Mensch haben Hut"). Und natürlich gibt es keine Wortänderungen (Deklination, Konjugation), sie werden durch Begriffskombinationen wie 'er - gehen - vergangen' = 'er ging' ersetzt.


Unklare Fernbeziehungen

Die im Satz etwas weiter reichenden Beziehungen, z.B. bei Relativpronomen (welcher, welche, welchen) oder Personalpronomen (er, sie, es, ihm, ihr), sind im Ggs. zur Molekülgrammatik nicht mehr nur durch die Satzstruktur definiert (z.B. 'bezieht sich auf vorvoriges Wort vom Typ o'), sondern durch Übereinstimmung von Geschlecht, Zahl (Ein- oder Mehrzahl), Kasus des beziehenden und bezogenen Worts. So sind zwar oft die Wortbeziehungen rein grammatisch eindeutig ('Seine Frau brachte ihm das Essen, und er aß es und dankte ihr'), aber nicht immer. Manchmal kann dann durch Kenntnis der realen Welt der Sinn erraten werden ('Seine Frau brachte ihm die Pizza, und er aß sie und dankte ihr'), aber auch das funktioniert nicht immer ('Seine hübsche Frau brachte ihm die Pizza, worauf er sofort in sie hineinbiß').
Bei der Molekülgrammatik dagegen sind die Wortbeziehungen im Satz immer schon rein formal eindeutig.


In den natürlichen Sprachen sind 2 Dinge vermischt

Nämlich der Bindungstyp eines Wortes und die Fähigkeit eines Wortes, als Prädikat zu dienen: nur Verben können ein Prädikat sein, jeder Satz muß genau ein Prädikat haben.

In einer Molekülgrammatik ist ein Prädikat in dieser engen, grammatischen Bedeutung unnötig (wenn auch machbar). Auch Substantive ('Baum' = 'da ist ein Baum') und Adjektive ('Baum grün' = 'Der Baum ist grün') können eine Hauptaussage bilden. Generell ist ein Satz eine ganze Liste von Behauptungen: Die im Satz genannten Dinge oder Aussagen sind vorhanden / treffen zu (wenn nicht durch Zusätze verneint oder relativiert)




Natürliche Grammatik formalisierbar ?

Kann ein Satz in natürlicher Sprache durch ein (je nach Sprache verschiedenes) Regelwerk rein formal in einen Satz in Molekülgrammatik umgewandelt werden, in dem dann die Wortbeziehungen eindeutig sind?

Genau dann, wenn die Wortbeziehungen im natursprachlichen Satz formal eindeutig sind. Siehe oben den Abschnitt über Fernbeziehungen. Das trifft für die wenigsten natürlichen Sprachen zu, doch ist es denkbar, Sätze so zu formulieren daß sie auch rein grammatisch eindeutig sind.

Solch ein Analyse-Algorithmus wäre natürlich viel komplizierter als der für eine Molekül-Grammatik, weil er bei den Wortbeziehungen auch Geschlecht, Ein- oder Mehrzahl, Kasus der Worte berücksichtigen müßte.




Die Benutzung der hier beschriebenen Techniken ist frei Stand: 1.2.05 Autor und Erfinder: Leonhard Heinzmann Homepage